Testverfahren zur Bestimmung der Kantenrissempfindlichkeit

14.10.2015 | Initiative Automotive


Testverfahren zur Bestimmung der Kantenrissempfindlichkeit

Vor dem Hintergrund des angestrebten Stahlleichtbaus als Folge von ökonomischen und ökologischen Zielen und Vorgaben werden die verwendeten Stahlgüten immer fester, die eingesetzten Bleche immer dünner und die Bauteilgeometrien immer komplexer. Die Anforderungen und Ansprüche an die mechanischen Eigenschaften des Vormaterials steigen infolgedessen kontinuierlich an.

Bei der Verarbeitung der zum Einsatz kommenden höher- und höchstfesten Blechwerkstoffe treten jedoch große umformtechnische Herausforderungen auf. Das Scherschneiden als eines der am häufigsten angewendeten Fertigungsverfahren in der Blechbearbeitung stellt ein Beispiel für eine solche Herausforderung dar. Beim Scherschneiden wird das Formänderungsvermögen des Materials im Kantenbereich deutlich reduziert, wodurch die Gefahr eines Risses an der Kante erhöht wird. Reißt das Material während der Umformung nahezu ausschließlich von der Blechkante, so wird es als kantenrissempfindlich bezeichnet.

Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass eine quantitative Bewertung des Umformvermögens einer durch Scherschneiden hergestellten Blechkante mittels gängiger Testmethoden und Parameter wie Zugversuch und Genzformänderungskurve nicht möglich ist. Aus diesem Grund wurden in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche Kantenrisstestverfahren entwickelt. Die derzeit einzige genormte und am weitesten verbreitete Testmethode ist durch den sogenannten Lochaufweitungstest nach ISO 16630 gegeben. Bei diesem Test wird ein Loch mit einem Durchmesser von dp = 10 mm durch Scherschneiden in die Blechprobe eingebracht und anschließend mit einem konischen Stempel aufgeweitet. Die Aufweitung wird durch den Bediener gestoppt, sobald dieser einen durch die gesamte Blechdicke verlaufenden Riss wahrnimmt. Das Testergebnis ist durch das sogenannte Lochaufweitungsverhältnis gegeben, das als Verhältnis aus Lochdurchmesserzunahme (Dh zu D0) zum ursprünglichen Lochdurchmesser D0 definiert ist (Abbildung 1).

Aufgrund der vergleichsweise einfachen Durchführbarkeit findet der genormte Lochaufweitungstest als Schnelltest sowie als Werkstofffreigabetest bei der Salzgitter Flachstahl Verwendung. Für eine gezielte Bauteilauslegung und zur Bereitstellung von Kennwerten für die numerische Umformsimulation werden jedoch Informationen benötigt, die über die mit Hilfe des Lochaufweitungstests nach ISO 16630 ermittelbaren hinausgehen. In der Salzgitter Mannesmann Forschung werden aus diesem Grund weitere Kantenrisstests, wie der sogenannte Lochaufweitungstest mit Nakajima-Stempel, eingesetzt. Für die „Lochaufweitung mit Nakajima-Stempel“ wird der Versuchsaufbau zur Ermittlung einer Grenzformänderungskurve verwendet. Wie im Fall des ISO 16630 Lochaufweitungstests besteht der Versuch aus zwei Schritten. Zuerst wird ein Loch mit einem Durchmesser von 20 mm in eine quadratische Probe mittels Stanzen eingebracht. Im zweiten Schritt wird die so präparierte Probe mit einem hemisphärischen Stempel aufgeweitet. Sobald ein Riss, welcher durch die gesamte Blechdicke verläuft, zu detektieren ist, wird der Versuch unmittelbar gestoppt. Das Ergebnis ist wiederum das bereits oben beschriebene Lochaufweitungsverhältnis. Im Gegensatz zum ISO 16630 Lochaufweitungstest kann jedoch vor der Umformung ein stochastisches Muster auf die Blechoberfläche appliziert und mit dem optischen Messsystems ARAMIS der Firma GOM eine detaillierte Dehnungsanalyse für den kantennahen Bereich der Probe durchgeführt werden. Mit Hilfe eines von der Salzgitter Mannesmann Forschung entwickelten Auswertemakros, welches definierte Risskriterien enthält, kann der Risszeitpunkt sowie das Lochaufweitungsverhältnis automatisch detektiert und bestimmt werden (Abbildung 2).

In der Literatur sind mehrere Ansätze zu finden, wie die auf diese Art ermittelten Kantenrisskennwerte in der Umformsimulation angewendet werden können. Ein allgemeingültiges Vorgehen, welches auf einer breiten Datenbasis steht und damit an verschiedensten Bauteilgeometrien getestet worden ist, ist bislang nicht bekannt. Daher wurde in einer Kooperation des Volkswagen Komponenten-Werkzeugbaus und der Konzernforschung, der ESI GmbH sowie der Salzgitter Mannesmann Forschung GmbH ein erstes industriell anwendbares Vorgehen am Beispiel eines Fahrwerkbauteiles definiert, angewendet und validiert. Dieses Vorgehen bietet für alle Bauteilkanten, die vor dem Schneidprozess nicht signifikant umgeformt wurden und sich im Bereich des einachsigen Zuges bewegen, wie z.B. im Fall des klassischen Kragenziehens, eine verlässliche Prognose hinsichtlich der Kantenrissneigung. Der Fokus zukünftiger Arbeiten liegt auf der Validierung des Vorgehens mit Hilfe weiterer Realbauteilgeometrien sowie auf der Untersuchung der Kantenrissempfindlichkeit von vorgedehntem Material.

Ansprechpartner seitens SZMF: Sebastian Westhäuser